Startvorteil für bisherige Nationalrätinnen und Nationalräte

Amtierende Nationalrätinnen und Nationalräte profitieren in Wahlen meist von ihrer Bekanntheit und guten Listenplätzen. Dieser Bisherigenbonus gereicht nicht nur den Herausforderinnen und Herausforderern zum Nachteil, er könnte über eingeschränkten politischen Wettbewerb auch die Wähler schlechter stellen.

Der Bisherigenbonus kann dazu führen, dass sich amtierende Ratsmitglieder weniger für ihre Wiederwahl engagieren müssen und die Interessen ihrer Wählerschaft vernachlässigen. Er kann auch Personen davon abschrecken, sich überhaupt für ein politisches Amt zu bewerben. Schliesslich wird der Bisherigenbonus von den Parteien auch wahltaktisch genutzt. So treten beispielsweise einige Ratsmitglieder im Laufe der Legislatur zurück und stossen damit die Türe zur Wiederwahl für die Nachrückenden weit auf. Diese wahltaktischen Rücktritte können bei Wählerinnen und Wählern sowie parteiinternen Herausforderinnen und Herausforderern den Eindruck erwecken, die Politik sei ein abgekartetes Spiel. Doch wie gross ist der Vorteil für bereits gewählte Nationalrätinnen und Nationalräte eigentlich?

Dieser Frage sind wir in einer Analyse für 22 Nationalratswahlen in den Jahren von 1931 bis 2015 nachgegangen. Wir haben die Wahlergebnisse von über 26'000 Personen mit über 41'000 Kandidaturen ausgewertet. Um den Bisherigenbonus zu berechnen, könnte ein naives Vorgehen direkt die Wahlchancen von Bisherigen und anderen Kandidierenden vergleichen. So wurden in den untersuchten Wahlen Bisherige mit einer Wahrscheinlichkeit von 88 Prozent gewählt, die Vielzahl von Herausforderinnen und Herausforderern mit durchschnittlich nur drei Prozent.

Der Bisherigenbonus beinhaltet Vorteile, wie mediale Aufmerksamkeit, gute Listenplätze und Erfahrung, die alleine auf das Amt zurückzuführen sind. Der obige Vergleich der Wahlwahrscheinlichkeiten ist nun hinsichtlich dieses Bonus wenig informativ. Er vermischt diesen mit anderen beobachtbaren und nicht-beobachtbaren Ursachen des Wahlerfolgs. So sind die Bisherigen beispielsweise durchschnittlich über zehn Jahre älter als die übrigen Kandidierenden. Sie werden sich aber vor allem auch hinsichtlich Charisma und Kompetenz unterscheiden. Bisherige haben in früheren Wahlen gezeigt, dass sie Wählerinnen und Wähler von sich und ihren politischen Ideen überzeugen können und haben damit einen generellen Startvorteil gegenüber anderen Kandidierenden.

Um den Effekt des Bisherigenbonus von den anderen Einflüssen zu isolieren, würde man idealerweise die Nationalratssitze zufällig auf die Kandidierenden zuteilen und dann in nachfolgenden Wahlen den Wahlerfolg von Personen mit und ohne Mandat vergleichen. Solche Zufallszuteilungen sind aber bei den Nationalratswahlen selten. Zuletzt fand eine Zufallszuteilung bei den Nationalratswahlen 2011 im Kanton Tessin wegen Stimmengleichheit zweier Personen statt.

In einer Annäherung an dieses ideale Vorgehen vergleichen wir den aktuellen Wahlerfolg von in der Vorperiode knapp gewählter und knapp nicht gewählter Kandidierender. Bei knappen Wahlen sind oft zufällige Faktoren für den Wahlausgang entscheidend wie beispielsweise einige wenige ungültige Stimmen oder schlechtes Wetter in den Stammlanden einer Kandidatin oder eines Kandidaten. Durch diese Zufälligkeiten werden die betroffenen Personen, ähnlich eines Experiments mit einer Zufallszuteilung des Nationalratsmandats, vergleichbar.

Fokussieren wir auf knapp gewählte und knapp nicht gewählte Kandidierende, lassen sich im Durchschnitt keine Unterschiede in messbaren Eigenschaften mehr feststellen. Auch Unterschiede hinsichtlich nicht messbarer Unterschiede wie Charisma oder Kompetenz sind deshalb unwahrscheinlich. Grosse Unterschiede zeigen sich allerdings in den darauffolgenden Wahlen. Während die in der letzten Wahl knapp gewählten Kandidierenden mit einer Wahrscheinlichkeit von 61 Prozent wiedergewählt werden, schaffen damals knapp Nicht-Gewählte nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 26 Prozent den Sprung in den Nationalrat. Ein Vorsprung von weniger als einem Prozent der möglichen Stimmen führt so bis zur nächsten Wahl aufgrund des Bisherigenbonus zu einem Startvorteil von über 34 Prozentpunkten.

Berücksichtigt man weiter, dass einerseits gewisse Gewählte das Amt gar nicht erst antreten, frühzeitig zurücktreten oder im Amt versterben und andererseits Nicht-Gewählte nachrücken, so verdoppelt sich der Unterschied in der Erfolgswahrscheinlichkeit der Bisherigen.

Autoren: Simon Lüchinger, Mark Schelker, Lukas Schmid.
Dieser Beitrag ist in ähnlicher Form in der NZZ vom 2.10.2019 erschienen.

Kontakt: Prof. Dr. Schelker, Lehrstuhl für Finanzwissenschaft

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